Darfst du schon…

Es wird langsam Herbst. Das merke ich nicht nur an den Bäumen und dem Wetter. Auch die Züge werden voller. Warum fahren so viele Menschen nur im Sommer mit dem Auto? Aber das ist nicht die Geschichte, die ich nun erzählen will. Es ist nun wieder kaum möglich, eine Sitzgruppe im Zug für sich alleine zu haben. Nicht das dies sein müsste, ich mag es ja Menschen zu beobachten.

Ich sitze also alleine in einem Viererabteil. Zwei Minuten vor der Abfahrt höre ich die bekannte Frage. „Ist hier noch frei?“ Ich will mit ‚Nein hier sitzen meine imaginären Freunde‘ antworten, lasse aber doch nur ein „Ja“ von mir hören. Ich blicke kurz von meinem Buch auf, um mein neues Gegenüber zu betrachten. Ein Bubigesicht sieht mich mit Hundeblick an. Was will der von mir? Sein Alter kann ich nicht schätzen, aber er sieht klar nach U20 aus. Bevor er mich anquatschen kann – man will ja auch mal seine Ruhe – ziehe ich die Kopfhörer aus der Tasche und stöpsle den MP3-Player an. Zu dumm, dass ich vergesse das Ding einzuschalten. Oder mache ich das mit Absicht? Mein Blick fällt wieder in mein Buch.

„Hörst du mich? Hallo?“ Fängt der nun doch an mit mir zu sprechen? Bitte nicht! Ich schiele zu ihm und stelle fest, dass er sein Smartphone am Ohr hält. ‚Junge‘ denke ich, ‚das ist ein Telefon. Natürlich hört er oder sie dich‘. Doch er scheint Verbindungsprobleme zu haben. Das kann natürlich am Bahnhof einer Stadt schon vorkommen. Diese Mobilfunkanbieter sollte doch mal ihre Anlagen erweitern… Wieder eine Frage in meinem Hirn: Welche Anbieter hat eine schwache Abdeckung in einem City Bahnhof? Da mir die Recherche zu mühselig ist, streiche ich dies aus meinem Gedächtnis. In der Zwischenzeit hat auch mein Nachbar das Telefonieren aufgegeben. Ich versinke erneut in meinem Roman. Doch schon nach zwei Zeilen höre ich seine Stimme wieder. Es klingt nach einem Weinen. Das weckt meine soziale Ader. Ihn jedoch direkt anzublicken könnte ja peinlich werden, also gebe ich vor, aus dem Fenster zu blicken. Im Glas sehe ich sein Spiegelbild und erkenne gleich, dass er nicht weint. Er hält sein Telefon an sein Ohr und hört offensichtlich so Musik. Hat der Junge nie etwas von Kopfhörern gehört?

Immerhin ist die Musik so leise, dass ich einen Moment benötige zu erkennen, was er an seinen Gehörgang schallen lässt. Es ist tatsächlich Hiphop. Sprechgesang! Die Betonung liegt hier doch beim ersten Teil des Wortes. Ich besinne mich auf die mir in früher Kindheit antrainierte Höflichkeit und beschliesse echtem Gesang zu lauschen. Mit einem Griff spielt mein Player Musik, die ich mag. Ich stelle die Lautstärke gerade so hoch, dass sein ‚Gesang‘ für mich unhörbar wird. Schaffe ich in den nächsten 30 Minuten diese Seite noch? Augen zurück zum Buch.

Ich bin schon guten Mutes, dass ein ganzes Kapitel schaffe – sollte in einer halben Stunde ja möglich sein –, da dringt ein anderes Geräusch durch die Musik an meine Ohren. Nun stehe ich vor der Entscheidung, Musik lauter oder ganz aus und das Geräusch identifizieren. Neugierig wie ich bin, entscheide ich mich für das zweite. Irgendwer in meiner Nähe schmatzt. Wieder blicke ich hoch und direkt zu dem Jüngling. Sein Blick ist immer noch flehend, das muss vermutlich sein normaler Blick sein. Er hat sich einen Kaugummi in den Mund gesteckt. Leider vergisst er beim Kauen die Lippen zu schliessen.

Ich hole gerade Luft, um mich zu beschweren, da steht der Kontrolleur bei uns. „Bitte alle Fahrausweise vorweisen.“ Mein Visasvis kramt seine Brieftasche hervor und hält sein Ticket dem armen Mann zwei Finger breit vor die Nase. Der Kontrolleur zuckt zurück und blickt die Fahrkarte an. Der Junge wird sichtlich nervös und seine Hand zittert. Ich bereite mich auf die Schadenfreude vor, wenn der Kleine erfährt, dass seine Karte nicht gültig ist. Doch der Angestellte nickt nur und zieht weiter. Langsam kommt meine Haltestelle und die Erkenntnis steigt in mir hoch. Der Arme fährt wahrscheinlich zum ersten Mal alleine im Zug.

Der Zug bremst zum Halt. Ich packe mein Buch ein, blicke meinem Gegenüber in die Augen und raune: „Darfst du schon alleine Zugfahren?“ Er zuckt zusammen. Ich warte nicht auf eine Antwort, sondern begebe mich mit einem schadenfrohen Grinsen zum Ausgang. Manchmal bin ich nicht nett, aber dafür habe ich Spass!


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