Entschuldigung

Wenn du früh morgens im Zug unterwegs bist, kennst du das Gefühl. Eigentlich bist du noch gar nicht wach und da die Fahrt eine Stunde dauert, kannst du einen Teil des fehlenden Schlafs nachholen.

Aus genau diesem Grund habe ich mich gemütlich in den Sitz gekuschelt. Störgeräusche überspielt mein MP3 Player ausgezeichnet. Mein Kopf lehnt an der Seitenwand und ich döse gerade langsam ein. Alles ist gut…

Plötzlich fühle ich einen Schlag an meinem Bein. Ich öffne meine Augen und erschrecke. Niemand hat mich geschlagen, aber neben mir hat sich ein überbreiter Mann in den Sitz fallen lassen. Er tut nun einfach so, als ob nichts geschehen wäre. ‚Nett‘, denke ich, ‚entschuldigen ist nicht mehr in Mode‘. Da ich zum Zanken viel zu müde bin, lasse ich mal Fünfe gerade sein und schliesse meine Augen wieder. Dass sein Bein auf Tuchfühlung mit meinem ist, verdränge ich. Bei seiner Breite ist dies kaum zu vermeiden.

Meine Augenlieder sind kaum fünf Sekunden geschlossen, da erhalte ich einen Stoss an meinen Oberarm. Mein Fahrausweis wurde bereits kontrolliert, also verdächtige ich meinen Sitznachbarn. Mit einem tiefen Atemzug öffne ich meine Augen und will gerade ein gehässiges „was?“ von mir geben. Doch er hat mich nicht an gestupst. Vielmehr hält er eine dieser Gratiszeitungen in voller Breite vor sich. Die Luft weicht langsam wieder aus meinen Lungen und ich beschliesse: Bei seinem Verhalten kann es nicht für eine vernünftige Zeitung reichen. Merkt er denn wirklich nicht, dass er einen Drittel meines Sitzes mitbeansprucht? Nein!

Ich füge mich meinem Schicksal erneut. Schliesslich kann so ein Tag nur besser werden. Denkste! Endlich finde ich eine Position, in der ich nicht bei jedem Umblättern einen Stoss erhalte. Die Musik etwas lauter auf meinen Ohren nehme ich den dritten Anlauf zu schlafen. Irgendwie empfinde ich es aber nicht als gemütlich genug. Also spiele ich nur den Schlafenden und denke darüber nach, wie ich diesen Typen politisch korrekt auf sein Fehlverhalten hinweisen kann. Doch auch dieses Vorhaben kann ich nicht zu Ende führen. Meine Nase ruft meinem Hirn irritiert zu: ‚Da stimmt etwas nicht!‘. Es umschmeicheln mich die Düfte der Darmwinde. Der pupst tatsächlich fröhlich drauf los. In welchem Busch hat dieser Mensch seine Kinderstube genossen?

Nach einem kurzen Blick auf die Uhr stelle ich fest, dass aus dem Schlaf nichts mehr wird. In ein paar Minuten bin ich am Ziel und darf aussteigen. Der Zug fährt in den Bahnhof ein. Leider scheint der Breite noch nicht an seinem Bestimmungsort zu sein. Ich nehme meine Tasche unter dem Sitz hervor. Nicht dass du jetzt denkst, er würde seine Beine etwas wegdrehen. Auch fehlt ihm jede Assoziation, dass dies mit dem Wunsch aufzustehen verbunden ist. Also erhebe ich mich langsam und murmle ein ‚Entschuldigung‘ in seine Richtung. Ausser einem weiteren Umblättern der Zeitung keine Reaktion.

Das kann ich nicht stehen lassen. Ohne auf seine Füsse zu achten, bahne ich mir den Weg zum Mittelgang. Dann blicke ich ihn nochmals fest an. „Entschuldige, dass es noch andere Menschen gibt!“ Da er mich nun fragend anblickt, gebe ich der Hoffnung, dass er mich verstanden hat, keine Chance…


Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..