Bist du schon mal zur Feierabendzeit an einem Bahnhof in einer Stadt gewesen? Musstest du auf einen Zug warten? Das sind die spannendsten Momente, wenn du wie ich gerne andere Menschen beobachtest.
So stehe ich auch an diesem Abend auf dem Bahnsteig und schaue mich etwas um. Ein paar Teenager bestreiten ihre Hackordnung, ein Anzugträger telefoniert mit dem üblichen Managergehabe und ein paar Touristen mit ausgedrucktem Fahrplan suchen ihren Anschluss. Nichts spezielles, denke ich mir. Da fällt mir eine Gestalt auf. Ein Mann, dessen alter ich nicht schätzen kann, schleicht sich von Person zu Person und quatscht jeden an. Jeder Angesprochene schüttelt nur stumm den Kopf und der Mann zieht weiter. Der Fall ist klar, ein Schnorrer.
Nun muss ich sagen, dass ich nie jemandem Geld gebe. Ich reagiere immer auf die Geschichte, die mir aufgetischt wird. Werde ich nach Geld für Essen gebeten, biete ich an ein Sandwich zu kaufen. Normalerweise verziehen sich die Bittsteller dann schnell. Das erstaunt nicht, wenn das vermeintliche Essen irgendwelche Rauschmittel sind.
Trotzdem wandert meine Hand immer in die Hosentasche um zu prüfen, ob da Kleingeld vorhanden ist. Genau das mache ich jetzt auch und stelle fest, dass es sicher für ein Brötchen und ein Getränk reichen würde. Um den Typen nicht zu verpassen, fixiere ich ihn mit meinem Blick. Ein wenig Spass muss sein.
Er ist drei Personen von mir weg, da bekommt er wirklich von einer älteren Dame ein paar Münzen in die Hand gedrückt. Er bedankt sich äusserst höflich und geht in die Richtung, von wo er kam. Eine kleine Enttäuschung macht sich in mir breit. Um mich von der verpassten Gelegenheit abzulenken, wende ich mich wieder den wartenden Passagieren zu. Die Teenagergruppe hat sich aufgelöst und nur noch zwei der Halbwüchsigen diskutieren miteinander. Auch die Gruppe von Touristen ist nicht mehr zu sehen. Leider ist auch nichts beobachtungswürdiges dazu gekommen. Ich frage mich, ob ich schon abgestumpft bin…
Plötzlich sehe ich den Schnorrer wieder. Er quatscht wieder jeden an, dieses Mal jedoch von der anderen Seite. Wie hat sich der an uns vorbei geschlichen? Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigt mir, dass ich noch etwa fünf Minuten warten muss. Der Mann ist noch mindestens 15 Personen von mir entfernt. Mit etwas Glück reicht es jetzt bis zu mir. Im Kopf gehe ich ein paar Szenarien durch, was wohl seine Geschichte sein wird, um mir etwas Geld abzuschwatzen. Auf die ganzen Klassiker – Geld für die Notschlafstelle, etwas zu Essen, das gestohlene Portemonnaie – lege ich mir die Antworten zurecht.
Gerade als er auf mich zusteuert, blitzt eine Idee in meinem Kopf auf. Er sieht mich an und bewegt sich auf mich zu. Mit fragenden Augen blicke ich ihn an und er eröffnet mit einem „guten Tag“. Hinter ihm fährt mein Zug ein. Ich lächle ihn an und entgegne: „Noch ist der Tag nicht gut, aber wenn du mir etwas Kleingeld für Drogen hast, könnte er besser werden.“
Seine Augen fallen ihm fast aus dem Kopf. Ich lege nach. „Dann halt nicht…“ und entschwinde in den Zug. Als der Zug ein paar Minuten später losfährt, steht der Typ immer noch mit offenem Mund dort.
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