Du als mein Leser weisst es schon. Ich fahre oft im Zug. Manchmal sogar zu ungewöhnlichen Zeiten. So wie auch heute. Es ist später als sonst, viel später. Zu dieser Zeit sind die Menschen in den öffentlichen Verkehrsmitteln noch interessanter, um es nett auszudrücken. Das kommt meinem Hobby natürlich gerade recht. (Solltest du ein neuer Leser sein, lies ein paar alte Posts und du kommst dahinter, welches Hobby ich meine…)
Die Gespräche sind durchmischt. Ich schätze noch ab, welcher dieser Dialoge meine Aufmerksamkeit verdient. Vielleicht sind es die beiden Extrovertierten (früher hätte man sie als Punks bezeichnet), die sich über das soziale Ungleichgewicht in der ersten Welt austauschen. Oder doch der Typ neben mir, der am Telefon mit seiner Partnerin spricht. Na gut, welches Dorf aussen vorbei rauscht weiss ich selbst. Hinter mir scheint es interessanter zu werden. Ein junger Mann erklärt einer etwa gleichaltrigen Frau seine emotionalen Empfindungen. Er scheint sehr feinfühlig zu sein. Immer wieder erklärt er ihr, was die eine oder andere unangenehme Situation in ihm auslöst. Ich könnte meine Gefühle nicht so detailliert beschreiben, Respekt! Doch für einen Mann ist so etwas eher atypisch. Ich kann den Verdacht auch nicht abschütteln, dass er sie damit nur umgarnen will. Ein paar Dörfer später bestätigt sich mein Verdacht. Schon folgt die Einladung. „Du kannst ja mal zu mir kommen.“ ‚Um Untersetzer zu knüpfen‘, füge ich in Gedanken hinzu. Doch sie ist bereits am Hacken und bietet ihm gleich Termine an. Solltest du Single und ein Mann sein, musst du diesen Typen finden und von ihm lernen.
Nach ein paar weiteren Minuten bin ich mir nun aber nicht mehr so sicher, dass es eine Masche ist. Entweder ist der Kerl einfach gut oder er hat zu viele weibliche Hormone. Ein Schelm wer jetzt böses denkt…
Durch das ganze emotionale Sozialgeplänkel merke ich kaum, wie die Zeit vergeht. Auch habe ich ganz vergessen die Dörfer zu zählen, womit ich mit dem Telefonierer nicht mehr mithalten kann. Der hat jedoch zwischenzeitlich aufgelegt. Oder wurde ihm aufgelegt? Ich blicke nochmals aus dem Fenster und sehe einen Bahnhof vorbei sausen. Den Namen kann ich gerade noch erkennen. In ein paar Minuten muss ich aussteigen. Also packe ich meinen MP3 Player – der natürlich nicht läuft – zusammen und schlüpfe in meine Jacke. Normalerweise stehe ich nicht so früh auf, aber ich möchte einen Blick auf den östrogenen Jungen werfen können. Was ich da erblicke, weckt sogar in mir einen Mutterinstinkt. Viele Frauen die ich kenne würden sagen, der ist einfach zum knuddeln. Für mich ist das die Beschreibung eines Plüschtiers, was sich mit dem Hintergrund der entsprechenden Gefühlsregungen meiner weiblichen Bekannten deckt.
Lächelnd schlendere ich zur Türe und muss feststellen, dass gewisse Passagiere mindestens Zehn Minuten vor Ankunft sich vor dem Ausgang drängeln. Es könnte ja sein, dass der Zug uns nur Sekunden zum Aussteigen lässt. Kaum sieht man durch das Fenster die ersten Bahnsteige, werden diese Menschen nervös. In mein noch immer vorhandenes Lächeln mischt sich ein wenig Bedauern.
Der Zug bremst und bleibt tatsächlich stehen. Ein Mann ganz vorne an der Tür legt den Finger auf den Knopf zum Öffnen und nimmt die Hand wieder zurück. Nichts passiert. Er versucht es ein zweites Mal, wieder nichts. Als er erneut den Finger auf den Knopf legt und die Türe sich immer noch nicht bewegen will, drängle ich mich zur Türe. Ich strecke meinen Arm aus und mache genau das, was dieser Knopf erwartet. Ich drücke darauf. Die Türe gibt ein zischendes Geräusch von sich und beginnt sich zu öffnen. Ich drehe mich zu dem Touchscreen-Mann um und frage freundlich: „Heute schon gedrückt?“ Darauf verlasse ich den Zug und lasse den armen Kerl mit offenem Mund stehen.
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