Kennst du das? Du sitzt abends nach einem langen Arbeitstag mit Nerv tötenden Mitarbeiter / Kunden / Chefs /Computer /… müde im Zug nach Hause. Du willst nur noch deine Ruhe. Deshalb hast du weit weg von Speisewagen und Familienzone einen Sitzplatz ergattert. Du lehnst dich gemütlich zurück und schliesst die Augen. So geht es mir öfters. Wem nicht?
Kaum bin ich leicht eingedöst, kommt die Durchsage aus den gefühlten zwei Millionen versteckten Lautsprechern, die uns im Zug Willkommen heisst. Schön, dass ich nach all den Jahren auf derselben Strecke immer noch willkommen bin. Wenn die wüssten… Danach werden die nächsten Bahnhöfe angesagt, an denen wir halten werden. Gut zu wissen, dass ich es immer noch auf den richtigen Zug schaffe. Doch der Service geht noch weiter. Die Ansage inklusive dem Hinweis auf die leckeren Dinge im Speisewagen – die ja kaum das Budget strapazieren – erfolgt auf drei weiteren Sprachen. Sollte ich mich also irgendwann in einem anderssprachigen Nachbarland aufhalten, kann ich zumindest den Speisewagen finden. Endlich ist der minutenlange Ohrenterror durch. Ich schliesse die Augen wieder und warte auf das leichte Wiegen während der Fahrt. Der Zug rollt an, ich atme noch einmal tief. Da tönt es an mein Ohr: „Ist hier noch frei?“ Ich hebe ein Lied und sehe eine Frau mit leicht gestresstem Gesichtsausdruck. Im Bruchteil einer Sekunde wäge ich meine Antwortmöglichkeiten ab. Aber der Mitleid erregende Gesichtsausdruck hat in mir die Hoffnung geweckt, dass sie auch nur einfach ihre Ruhe möchte. Also nicke ich zustimmend. „Komm, hier ist noch Platz.“ Wie ein Blitz durchfährt es mich, dass dies nicht an mich gerichtet ist. Wen hat die Gute im Schlepptau?
Die Antwort liess nicht lange auf sich warten, ein kleiner Racker, ich schätzte ihn auf etwa 7 Jahre, setzte sich neben sie. Ok, sie hat ein Kind, weshalb setzt sie sich nicht in den Familienwagen? Da hat es sogar einen kleinen Spielplatz. Der Kleine sitzt also mir gegenüber und ich schliesse die Augen wieder. Keine 5 Minuten dauert es, bis ich etwas an meinem Knie spüre. Ich öffne mein rechtes Auge ganz leicht. Der Junge sitzt da und baumelt mit seinen Beinen. Offensichtlich ist ihm langweilig. Ich räuspere mich in der Hoffnung, das Kind merkt es. Natürlich merkt es die Mutter und weist ihn zurecht. Es dauert aber nur ein paar weitere Minuten bis das typische „Mir ist langweilig…“ kommt. Ich versuche es zu ignorieren, mit mässigem Erfolg. Der Kleine wiederholt den Satz wie ein Mantra, was die Mutter gerade noch zu einem „Schhhh“ bewegt. Der nörgelnde Junge hört es nicht oder ignoriert es einfach. Meinen Kurzschlaf kann ich wohl vergessen.
Vor meinem geistigen Auge spielt sich ein Film ab. Ich schaue dem Kind in die Augen und mit drohendem Unterton sage ‚Wenn du nicht ganz ruhig sitzen bleibst, bis ich aussteige, stirbt dein Lieblingshaustier‘. Ich lächle bei der Vorstellung. Es wäre so befreiend. Aber meine Kinderstube verbietet mir dieses Vorhaben. Trotzdem will ich es nicht einfach so über mich ergehen lassen. Ich setze mich aufrecht hin, öffne die Augen und starre den Jungen an. In Sekundenschnelle merkt er es und schaut zu mir. Bevor er mich ansprechen kann, frage ich „muss das sein?“. Eigentlich erwarte ich Vieles: zum Beispiel er streckt mir die Zunge raus, er ignoriert mich einfach oder mit etwas Glück versteht er mich und gibt sich ein wenig Mühe, nicht den ganzen Zug wissen zu lassen, dass er eigentlich gar nicht da sein möchte. Gut, ich möchte auch nicht, dass er da ist.
Meine Liste der möglichen Reaktionen ist nicht einfach unvollständig. Nein sie ist einfach falsch. Ich habe so viele Antworten des Kleinen in dieser Liste, aber ich vergass das Elementarste: die Mutter. Nachdem sie mich vor einem blauen Knie bewahrt hat, habe ich ihre Unterstützung einfach vorausgesetzt. Ein Kapitalfehler wie gleich lernen werde. Ihr Gesicht verändert sich zu einer entgeisterten Miene, ihre Augen sahen mich an, wie vor zig Jahren die meiner eigenen Mutter. „Unerhört, lassen sie doch das Kind in Ruhe!“
„Er lässt mich auch nicht in Ruhe!“ Verdammt! Ich bin selbst in die Kinderrolle geschlüpft. Mein Argument war das eines maximal Zehnjährigen. Gleich auf zum Angriff: „Sehen sie sich doch einmal um. Die meisten wollen ihre Ruhe. Warum muss der arme Junge hier sitzen, wenn ein paar Wagen weiter wo die Familienzone ist?“
„Dort sind lärmende Kinder.“ Mein Gesicht ist in dem Augenblick wohl ein Foto wert. Doch ich schaffe es noch rechtzeitig zu kontern. „Genau dort gehört er hin!“
„Ach er ist etwas lebhaft, aber ich mag keine geschlossenen Räume mit spielenden Kindern.“
„Darum haben sie eines auf die Welt gestellt?“ Ich erhalte ein paar zustimmende Blicke aus den umgebenden Sitzreihen. Sie blickt mich mit genauso offenem Mund an wie ihr Sohn. Das hält lange genug an, damit ich den Rest der Fahrt meine Ruhe habe. Ich döse mit dem Gedanken ein: Kinder sind Scheisse, Eltern auch…
PS: Bevor nun ein Shitstorm losgeht: Ich habe selber Kinder und hätte oft genug die andere Seite einnehmen können. Manchmal habe ich es sogar getan…
Schreibe einen Kommentar