Zu weit ist nah

Morgens im Zug, früh morgens. Mein einziger Gedanke ist, ich will schlafen. Schliesslich muss man eine Stunde fahrt sinnvoll nutzen. Ein gemütlicher Sitzplatz und Musik im MP3 Player machen diese Stunde schon fast erträglich.

Meine geschlossenen Lieder werden gerade angenehm schwer, da höre ich – trotz der Musik – den berühmten Satz ‚Ist hier noch frei‘. Ihr kennt das. Mit einem Schlucken unterdrücke ich den Reflex einer entsprechend unflätigen Antwort. Ich beschliesse gar nicht zu reagieren. Immerhin habe ich Kopfhörer in den Ohren und schlafe.

Leider lässt meine Ignoranz das Pärchen im leicht fortgeschrittenen Alter nicht das Weite suchen. Natürlich habe ich kurz geblinzelt, als sich der Mann wie ein Sack neben mich auf den Sitz fallen lässt. Seine Frau setzt sich ihm gegenüber. Wenigstens kann ich so meine Beine ausstrecken. Fleissig gebe ich weiter vor zu schlafen, was die beiden nicht kümmert. Sie plaudern fröhlich los. Mit einem Griff zum Lautstärkeregler verbanne ich ihre Stimmen in den Hintergrund. Wie können Menschen noch vor Sonnenaufgang so aktiv sein?

Immerhin kann ich etwas mehr al eine halbe Stunde dösen. Jetzt wird die Diskussion der beiden aber intensiver. Ich vernehme ihre Stimmen wieder über die nicht sehr leise Musik. Zudem unterstreicht der Mann seine Argumente mit heftigen Gesten. Nicht die unanständige Art der Gesten aber in der Bewegung ausufernd. Ihr Glück ist, dass ich viel zu müde bin um mich zu ärgern. Dafür haben sie jetzt mein Interesse (was nicht zwingend besser ist).

Mit einem unbemerkten Griff schalte ich meinen Player aus, gebe aber weiter vor in Träumen zu schwelgen. Ein paar Sekunden des Zuhörens reichen um das Thema zu erfassen. Sie lassen sich über Bekannte aus, die das nahe Ausland nutzen, um gewisse Produkte günstiger zu kaufen. Jeder von euch der die Schweiz kennt weiss, dass es sich hier um nahezu alle Produkte handelt. Die Zwei finden das aber nicht aus Gründen der Wirtschaft, der mangelnden Unterstützung lokaler Geschäfte oder der Umweltverschmutzung wegen doof. Sie monieren den Zeitverlust durch den Grenzübertritt und der weiteren Fahrdistanz. In wenigen Minuten habe ich die gesellschaftliche Intelligenz des Pärchens auf ‚Leser der Zeitung mit grossen Überschriften und vielen Bildern‘ eingestuft.

Fassungslos ob der Absenz echter Argumente und der steten Wiederholung der verwendeten fünf Sätze halte ich meine Augen weiter geschlossen. Erst als der Zug vor meinem Zielbahnhof abbremst öffne ich die Augen. Mein Fluchtreflex ist nun so stark, dass ich nicht wie üblich bis zum Stillstand sitzenbleibe. Ich zwänge mich an den beiden vorbei. Erst da bemerke ich, dass beide mich anstarren. Schnell setze ich meine Mitleidsmiene auf, seufze und sage zu ihnen: „Für manche ist das Nahe zu weit…“ Darauf husche ich in Richtung Ausgang davon ohne Hoffnung verstanden zu sein.


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